14. März 2024 Thema: Allgemein Von Carsten Löcker
Der LehrerInnen-Mangel ist groß; in Herten, im Kreis Recklinghausen sowie landes- und bundesweit. Die in diesem Zusammenhang geführten Gespräche mit Hertener Lehrerinnen und Lehrern der Primarstufe sowie der Sekundarstufe I und II, der LWL- Förderschule, Vertretern des Verbands Bildung und Erziehung (VBE), der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), dem Sprecher der Gymnasien im Kreis Recklinghausen, sowie den Sprechern der Berufskollegs, dem Kreis Recklinghausen und der Bezirksregierung Münster belegen die Dringlichkeit des zielgerichteten Handlungsbedarfs. Die spezifische Perspektive der unmittelbar betroffenen Akteure -der Lehrerinnen und Lehrer auf Kommunal- und Kreisebene in Kombination mit Verbandsvertretern- gibt einen noch stärkeren operativen Einblick in die Probleme und Herausforderungen zum Lehrkörper-Mangel als bisherige Anspruchsgruppen.
Der vorliegende Beitrag beschreibt Handlungs- und Optimierungsansätze auf Basis der geführten Gespräche. Sie dienen der Kommune, dem Kreis und dem Land als wichtige Eingangsinformation für die ergebnissichernde Behebung des LehrerInnen-Mangels.
Autoren:
Dr. Frank Lelke, Mitglied des Kreistags Recklinghausen
Carsten Löcker, NRW-Landtagsabgeordneter
1) Kooperation mit kommunalen Jugendämtern in der Schule – Jugendamt@Schools
▪ Verbale und körperliche Gewalt/ Aggressionen nehmen deutlich zu. Insbesondere die verbale Gewalt zwischen SchülerInnen aber auch gegenüber LehrerInnen
▪ SchülerInnen zeigen deutlich häufiger psychische Störungen
▪ Lehrer-Schüler-Lehrer/Eltern-Lehrer-Gespräche ändern sich signifikant. Anstelle einer konstrukTven Lösung im Sinne des Schülers/ der Schülerin wird vermehrt die Schuldfrage gestellt
▪ Sinnvoll und notwendig ist ein/e Mitarbeiter/in des Jugendamts mit zumindest 1h/ Woche vor Ort in der Schule. Der Bedarf ist gegeben und kann bzw. darf nicht durch LehrerInnen abgedeckt werden
2) Ursachenforschung – Sachgrund Teilzeit vermehrt die Folge von Überlastung
• Die Realität ist als „Teilzeit behind the scenes“ zu bezeichnen. Die sachgrundbezogene Inanspruchnahme ist in nicht wenigen Fällen eine Folge zunehmender Belastung. Immer mehr LehrerInnen wechseln mit einem offiziellen Grund wie schulpflichTgen Kindern und/ oder pflegebedürftigen Angehörigen in die Teilzeit. Dahinter liegen ursächlich die zunehmenden Belastungen über den reinen Unterricht hinaus
• Insbesondere im Bereich der Grundschulen im Kreis Recklinghausen verzeichnet der VBE eine exponentielle Steigerung von LehrerInnen mit einem Alter <50 Jahre mit psychischen Erkrankungen und somit einer steigenden Zahl von Betrieblichen Eingliederungsmanagement (>6 Wochen Krankheit)
• Der vom Bildungsministerium NRW geforderte Stopp der sachgrundlosen Teilzeit verfehlt sein Ziel in großen Teilen. Viel wichtiger ist es anzuerkennen, dass die sachgrundbezogene Teilzeit weniger aus dem reinen Sachgrund, sondern vielmehr als Ausweg aus der zu hohen Belastung resultiert
• Das Elternengagement sinkt. Als Folge des gesellschatlichen Wandels bringen sich Eltern vergleichsweise weniger in die Schule ein als bisher
• Ein Belastungsbarometer gibt Aufschluss über die Intensität und ist ein geeignetes Instrument in die ursachen- und zielgerichtete Diskussion zwischen Schulen,
Träger und Verbänden
3) Zukunftsgerechte Schulbauten und Umwidmung städtischer Gebäude als Alternative zum Neubau
• In zahlreichen Kommunen fordern Schulleitungen seit Langem, städtische Leerstände und andere Flächen zur schulischen Nutzung umzuwidmen, um dem Raummangel entgegenzuwirken und damit den Haushalt vergleichsweise entlasten
• Die Montag Stiftung gibt in Zusammenarbeit mit dem VBE und dem BDA einen planerisch, pädagogisch und architektonisch fundierten Orientierungsrahmen für mittelfristige Schulbauinvestitionen und die Aufstellung kommunaler oder regionaler Leitlinien für zukunftsgerechte Schulbau
4) Fortlaufender Ausbau der digitalen Infrastruktur
• In Ergänzung zum Primat der Pädagogik sind die fortlaufende Erweiterungs- und Ersatzinvestition unumgänglich, um Schule in der Zukunft erfolgreich zu gestalten • Entscheidend ist ein Betreibermodell, das Schule, Kommune und IT-Dienstleister in Einklang bringt
5) Neue Schlüssel zur Personalbemessung orientiert sich an Aufwandskategorien
• Der Anteil über den eigentlichen Unterricht steigt in den letzten Jahren enorm. Lehrpläne müssen bspw. alle 2-3 Jahre (im Gegensatz zu bisher 5-10 Jahren) neu und fächerspezifisch ausgearbeitet werden. Des Weiteren sind Verwaltungsarbeiten wie das Nachhalten von Krankheiten, Abwesenheiten etc. zu pflegen
• Zu beobachten ist die verhaltene Bereitschaft von LehrerInnen, Klassenfahrten zu begleiten, Exkursionen zu planen und durchzuführen. Aufgrund des hohen Arbeitsanteils über den Unterricht hinaus kein überraschender Fakt. Hinzu kommen die Zeiten für die Organisation, Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung, sodass vermehrt Inhouse-Lösungen genutzt werden; d.h., dass z. B. die Vertreter vom Zentralen Betriebshof, der Polizei und Anderen in die Schule kommen. Die Situation ist unbefriedigend, da eine vor Ort-Veranstaltung natürlich mehr Interesse und Eindruck hinterlässt als die Inhouse-Lösung in der Schule
• Insbesondere in Grundschulen und der Erprobungsstufe an weiterführenden
Schulen (5./6. Klasse) ist das fachliche Delta der SchülerInnen eine
Herausforderung. Deutlich größer ist der Unterschied noch in den Feldern Sprache, Motorik, Schreiben, Konzentration und Sozialisation; etwa das Binden von Schuhschleifen, der Toilettengang und das Lesen der Uhr ist vermehrt nicht
gegeben
• Die Vorgabe in Grundschulen, für jedes Kind einen Förderplan aufzustellen ist aufgrund der vorherrschenden Situation schlichtweg gar nicht möglich. Benötigt
dazu werden insbesondere Sonderpädagogen, die es am Markt nicht in der
Quantität gibt
• Der Bruttopersonalbedarf bei Schichtsystemen in der freien Wirtschaft orientiert
sich u.a. auf Abwesenheitszeiten für Fort- und Weiterbildung, Urlaub und Krankheitsausfällen, Arbeitszeitmodellen sowie der Entwicklung des Arbeitsaufkommens und der technischen Entwicklung im Produktionsprozess. Dieser Bedarf wird rollierend validiert und im Idealfall angepasst. Bei der Bemessung von Lehrerkapazitäten finden diese Punkte teils keine Berücksichtigung. Hier ist überwiegend die Anzahl der SchülerInnen das dogmatische Kriterium. Somit führt ein voll besetzter Stellenplan an einer Schule bei einem Ausfall von 1-2 LehrerInnen in der heutigen Zeit bereits zu einer echten Herausforderung, den Unterrichtsalltag sicherzustellen
6) Mehr praktische Studienphasen für Lehramts-StudentInnen „Duales Studium“
• GEW und der VBE konstatieren seit Langem, den Lehrerberuf praktischer
aufzustellen, indem z. B. die Lehrerausbildung in Anlehnung an ein duales Studium
(Arbeit + Studium) konzipiert wird. Junge Menschen verdienen bereits Geld, werden besser auf die Realität eingestellt und ausgebildet, was wiederum die Aktraktivität erhöht, sich für den schönen Beruf des Lehrers zu entscheiden
• Neben MINT zählen Musik, Kunst, Sport und Praktische Philosophie zunehmend
zu den Mangelfächern in allen Schulformen. Der höhere Praxisanteil trägt dazu bei, sich vermehrt für eines der genannten Fächer oder Kombinationen zu entscheiden
7) Stop des Abordnungs-Karussells
• Der VBE bezeichnet die Kaskaden-Abordnung der Bezirksregierung als Dilemma, da das Problem im Kern nicht gelöst wird: Lehrkräfte werden vom Gymnasium zur Sek I abgeordnet, die dann wie auf einem Verschiebebahnhof an Grundschulen abordnen müssen. Diese Praxis tritt gleich mehrere Systeme in ihrer Unterrichtsplanung und geht zu Lasten zahlreicher Lehrkräfte, die zwischen den Schulen hin- und hergeschoben werden. Diese Vorgehensweise ist völlig inakzeptabel und muss aufhören
8) Anhebung der Eingangsbesoldung für alle Lehrämter auf A13 für ist kein wesentliches Allheilmittel zur Verbesserung der Aktraktivität
• Im europäischen Vergleich der Eingangsbesoldung liegt Deutschland hinter Luxemburg und der Schweiz auf Platz 3. Ein monetäre IncenTvierung stellt keine wesentliche Verbesserung der AVrakTvität des Lehrerberufs dar. Zahlreiche deutsche und europäische Studien belegen, dass das Entscheidungskriterium Gehalt in den letzten 20 Jahren ein Hygienefaktor beschreibt (Stat2024).
9) Auf- und Ausbau digitaler Infrastruktur zur Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen Schule und Bezirksregierung/ Untere Schulaufsichtsbehörde
• Eine stärkere Nutzung der Digitalisierung etwa in der Zusammenarbeit mit der Bezirksregierung sowie bei Fort- und Weiterbildungen spart wertvolles Stunden- kontingent von LehrerInnen. Beispiel: 10 Schulleitungen mit einer Besoldung von A16 für 10 Folien zu einer Präsenzveranstaltung in Münster zu verpflichten, ergibt nur wenig Sinn.
10) Erlass zu Vorgriffsstellen an Gymnasien ist ein Trugschluss
• Mit dem sperrigen Begriff der „Vorgriffsstellen“ sind zusätzliche Arbeitsplätze für Lehrerinnen und Lehrer gemeint, die eigentlich erst von 2026 an für die Gymnasien vorgesehen sind (im Zuge der Rückkehr vom Bildungsgang G8 zu G9. Bis dahin sollen diese für die Sekundarstufe II ausgebildeten LehrkräQe an anderen Schulen und Schulformen unterrichten, die unter besonderem Lehrkräftemangel leiden
• Der Erlass zu Vorgriffsstellen an Gymnasien ist ein Trugschluss. Spätestens 2026 gehen die LehrerInnen zurück an die ursprüngliche Schule, was ein kapazitäres und planerisches „Loch“ an den bisherigen Schulen reißt
11) Stadt- und Regionalentwicklung weiteres Top-Kriterium für die Wahl einer Schule
• Die Wahl für einen Arbeitgeber, respekTve einer Schule ist für Hochschulabsol-
venten neben der AVrakTvität ihres Arbeitsgebers auch maßgeblich vom kommuna-
len und regionalen Umfeld und mithin die Vereinbarkeit von Beruf und Familie abhängig; zahlreiche Studien belegen das seit Langem (FAZ2022)
• Somit sind Kommunen und Kreise aufgefordert, die zukunQssichernde Entwicklung ihrer Region zu gestalten; Wohnen, Gewerbe und Dienstleistungen sowie Freizeitangebote als Strauß eines aVrakTven Angebots (UBA2017)
12) Universitäten und NC
• Der Numerus Clausus (kurz: NC) definiert ohne Zweifel als Grundmaß für die notwendige Eingangskompetenz. Er ergibt sich jedes Semester neu aus Angebot und Nachfrage nach Studienplätzen in einem Studiengang. Ab dem Sommersemester 2021 gelten neue Regeln bei der Vergabe der Studienplätze. Eine Zulassung über die Wartezeitquote ist nicht mehr möglich. Stattdessen wird im Auswahlverfahren der Hochschule für jedes (bis maximal 7) Wartesemester die Abiturnote um 0,1 verbessert. Somit ist die immer wieder von unterschiedlichen Seiten geforderte NC-Diskussion allein nicht zielführend. Der Lehrerberuf muss etwas Besonderes und Erstrebenswertes für junge Menschen sein und bleiben. Nur mit einem gesunden Maß bei der Festsetzung eines NC entscheiden sich engagierte und qualifizierte Mädchen und Jungen mit Hochschulreife für das Lehramtsstudium und sind nach Erreichen ihres Studienziels stolz auf sich und das Erreichen eines besonderen Ziels.
Fazit
Die gesammelten und kumulierten Erfahrungen von Lehrerinnen und Lehrern sowie Verbänden bestätigen, dass das gegenwärtige Ausschöpfen von rechtlichen Spielräumen zur Bewältigung des LehrerInnen-mangels nicht zielführend ist. Vielmehr sind auf Basis der vorherrschenden Situation an den Schulen und den operativen Prozessabläufen -bottom up- die Ursachen lückenlos zu eruieren, zu benennen und daraus abgeleitet zielgerichtete Handlungsempfehlungen zu formulieren und umzusetzen.
Frank Lelke und Carsten Löcker setzen sich mit dem vorliegenden Dossier für einen solchen ergebnissichernden Ansatz ein und appellieren an Kommunen, Kreise, Land und Bund, diesen aufzunehmen!
Literatur
[FAZ2022] Frankfurter Allgemeine Zeitung: Kriterien bei der Berufswahl , Online- Link: https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/studenten-setzen-bei-der- berufswahl-auf-gehalt-und-sicherheit-18378840.html, 2022
[MoVBBD2013] Montags Stiftungen; Verband Bildung und Erziehung; Bund Deutscher Architekten: Leitlinien für leistungsfähige Schulbauten in Deutschland, Bonn/Berlin: 2013
[Stat2024] Statista: Umfrage zu Faktoren bei der Arbeitgeberwahl 2021, Online- Link: hVps://de.statista.com/statistik/daten/studie/1279351/umfrage/umfrage- zu-ausschlaggebenden-faktoren-bei-der-arbeitgeberwahl/, 2024
[UBA2917] Umweltbundesamt: Die Stadt für Morgen: Umweltschonend mobil – lärmarm – grün – kompakt – durchmischt, Dessau: 2017